„Und weil die Missachtung des Gesetzes überhandnehmen wird, wird die Liebe in vielen erkalten.“ Matthäus 24,12
Brrrrrr! Es wird kalt!
Als wir an einem Sonntag durch den Wald bei Altenberg gingen, sagte unsere Tochter Lisa, die auf meinem Arm war und zitterte: „Mir ist kalt!“ Dieser Satz – der für dich, den Leser, ein einfacher Ausdruck ist – klingt aus der Perspektive der Psychopädagogik anders. Die Wahrnehmung (verstanden als die Gehirnfunktion, die Sinnesreizen Bedeutung verleiht) entwickelt sich während der frühen Kindheit. In diesem Fall hängt das Gefühl von Kälte oder Hitze von der taktilen Wahrnehmung ab und erst nach zwei Jahren können Kinder das Wärmegefühl interpretieren. Es war also das erste Mal, dass wir sie über die Kälte klagen hörten. Ihre Mutter sagte dann: „Auf Lisa, runter von Papas Arm, lauf mit uns! Wenn du deinen Körper bewegst, wird dir wieder warm!“ Lisa zögerte, entschied sich aber auf Drängen, mit uns Hand in Hand zu gehen.
Das der Ermahnung der aufmerksamen Mutter zugrunde liegende Prinzip ist, dass Wärme durch Bewegung erzeugt wird. Das Bewegen ist der erste Schritt, um den Körper wieder aufzuwärmen, läuft jedoch dem Willen zuwider. Denn wenn uns kalt ist, bleiben wir erstmal lieber unbeweglich.
Wie oft wollen wir nicht aus unserer Komfortzone heraus… aber Gott weiß, dass sich der Mensch bewegen muss, um warm zu bleiben.
Genauso wie im Körper, können auch die menschlichen Beziehungen abkühlen. Es gibt keine wissenschaftlich dokumentierte mentale Funktion, die die „Beziehungstemperatur“ misst und reguliert und uns auf die Notwendigkeit hinweist, den Kontakt miteinander zu erwärmen oder abzukühlen. Es gibt jedoch etwas in uns, eine Art emotionales Thermometer, das uns alarmieren kann, wenn wir anderen auf die Nerven gehen oder jemandem näher sein möchten, das Aspekte wie Müdigkeit, Traurigkeit, Glück und Wut aufdeckt, das den Umarmungsknopf auslöst und das uns auffordert, uns zu entschuldigen. Aber dieses System des gegenseitigen Wahrnehmens und Handelns muss trainiert werden.
Der heutige Vers ist ein Ausschnitt aus der prophetischen Rede Christi auf dem Ölberg. Der auffälligste Teil dieser entscheidenden Beschreibung besagt, dass die Liebe vieler Menschen kalt werden wird. Aber gäbe es eine Alternative zur Wiederherstellung der optimalen Temperatur der Liebe in uns? Vielleicht ist der Beginn des Verses ein Tipp, wenn wir vom „Überhandnehmen der Missetaten“ lesen.
Das Wort Missetat ist in der ganzen Bibel zu finden. Im Alten Testament (aus dem Hebräischen Avev) wird es mit Unmoral, Aufruhr gegen das Gesetz, Perversion und moralischer Korruption, Untreue gegenüber Gott und dem Nächsten in Verbindung gebracht – deshalb sind Missetäter eine andere Art Sünder. Im Neuen Testament jedoch hat die Ungerechtigkeit (aus dem Griechischen Ανομία anomia) die explizite Bedeutung von Gesetzlosigkeit, Ungerechtigkeit und Nichteinhaltung des Rechten.
In unserer postmodernen Gesellschaft gibt es eine Fülle der oben genannten Attribute der Ungerechtigkeit. Fredric Jameson, ein Theoretiker über die Postmoderne, stellt folgende Charakteristika einer postmodernen Gesellschaft dar: Abwesenheit von Regeln und Werten, Individualismus, Pluralität, Schock und Mischung aus Realem und Imaginärem, Meinungsfreiheit, u.a. Merkst du es? Der böse und egozentrische Charakter des Missetäters steht in direktem Zusammenhang mit dem konzentrischen und individualistischen Charakter unserer Zeitgenossen.
Man sieht also, dass unsere individualistische Lebensweise soziokulturell und gesellschaftlich gefördert wird, und dieses „jeder für sich“ wird durch Bewegungen wie „akzeptiere dich, wie du bist“, „wie schütze ich mich selbst“ und andere Selbsthilfe-Ideen nur noch unterstützt. Zu sehen, wie Menschen anderen Menschen helfen, löst großes Erstaunen aus, da man kaum noch solche Taten bemerkt. Komplimente von anderen bekommen, zum eigenen Nachteil das Beste für den Anderen machen, den Anderen akzeptieren, wie er ist – auch das sind selten gewordene Praktiken. Das Evangelium jedoch konzentriert sich gerade auf den Anderen, auf das Handeln und Dienen. Christus verkündet dieses Szenario mit Nachdruck, lässt uns aber nicht entmutigen. In den nachfolgenden Versen erklärt er seinem Volk, aus diesem und anderen Zeichen zu erkennen, dass sein Kommen bevorsteht, und in den Versen 39 und 44 werden wir aufgefordert, jedes dieser Zeichen wahrzunehmen. Der Lieblingsjünger Johannes erwärmt uns mit guten Worten, die er vom Meister erhalten hat: „Wenn jemand sagt, ich liebe Gott! – Und er hasst seinen Bruder, er ist ein Lügner. Denn wie kann der, der seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, Gott lieben, den er nicht sieht? Und wir haben dieses Gebot von ihm, dass der, der Gott liebt, auch seinen Bruder liebt.“ (1. Johannes 4,20-21) Und: „Meine lieben Kinder, lasst uns nicht Worte oder Mund lieben, sondern Einstellungen und Wahrheit.“ (1. Johannes 3,18)
Hast du auch das Gefühl, dass sich geistliche Kälte ausbreitet? Bewegst du deine (Mit)Glieder, bewegst du den Kirchenkörper! Lass uns Wärme erzeugen und die Kälte fernhalten!